– Berlin, 07.03.2019 –
Am Mittwoch (07.03.2019) wurde Mario im Berufungsprozess vom Vorwurf des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte freigesprochen. Er war Teil einer Blockade gegen die Räumung des Kiezladens Friedel54 in Berlin-Neukölln am 29.06.2017. Dabei drängten sich nach zähen 90 Minuten Verhandlung allerlei Fußballvergleiche auf.
Zur Erinnerung: In der Vorrunde hatte Mario einen Strafbefehl wegen Widerstandes erhalten und Einspruch eingelegt. Beim ersten Verhandlungstermin vor dem Amtsgericht wurde eine Einstellung angeboten, aber abgelehnt, da Mario und seine Verteidigerin einen Freispruch forderten. Daraufhin musste dieses erste Hinspiel abgebrochen werden, da der geladene Bullen-Zeuge nicht anwesend war. Im zweiten Hinspiel musste Team Mario eine schwere Niederlage einstecken und ging mit 20 Tagessätzen á 30 Euro nach Hause. Gegen das Urteil legten aber Staatsanwaltschaft und Verteidigung Berufung ein.
Beim heutigen Rückspiel vor dem Landgericht Berlin in der Turmstraße war also Spannung geboten. Bereits eine halbe Stunde vor Verhandlungsbeginn sammelten sich die Friedel54 – Ultras mit Tee, Kuchen und Flugblättern vor dem Einlass um ihr Team zu supporten. Der (Schieds)Richter überraschte sie mit einer kurzfristigen Raumverlegung. Nach nervigen Vorkontrollen fanden sich trotzdem 11 Gästefans pünktlich zum Verhandlungsbeginn um 12 Uhr in der „Arena“ ein.
Augenscheinlich waren keine Zivten oder Uniformierte im Gästeblock, nur zwei Justizordner ordneten die Ordnung. Der Saal 101 bestach durch eine extrem schlechte Akkustik und eine vorverurteilende Architektur. Während der Angeklagte und seine Verteidigerin ebenerdig vor dem Richter und den beiden Schöffen (pardon, Schiedsrichter-Assistenten) saßen, nahm der Staatsanwalt an einem Podest platz, dass die gleiche Höhe wie das Richterpult hatte und nur durch eine marginale Flucht von diesem getrennt war.
Der Richter begann die Partie mit der Personalienfeststellung und dem Verlesen des strittigen Urteils aus dem Hinspiel.
Die Staatsanwaltschaft ging in Berufung, da ihr die Strafhöhe zu niedrig war. Eine fast zehn Jahre alte Vorstrafe sei zu wenig berücksichtigt worden.
Die Verteidigung ging ebenfalls in Berufung und plädierte auf Freispruch. Mario sei Teil einer friedlichen Versammlung gewesen. Da das Versammlungsrecht ein verfassungsgeschütztes, hohes Gut sei, dürfe die Polizei nicht präventiv und polizeirechtlich vorgehen, sondern müsse das Versammlungsrecht anwenden. Damit sei der Einsatz rechtswidrig und der Widerstand somit nicht strafbar gewesen. Dazu wurde auch die Tatsache angezweifelt, dass Mario überhaupt die Polizeimaßnahme beeinträchtigt habe. Dazu wurden verschiedene Fotos der Kreuzung Lenau- Ecke Friedelstraße gezeigt, die damals eine große Baustelle war. Diese Baustelle war 180 Meter weit von der Friedel54 entfernt und Mario stand mitten in einem Fußgängerweg durch die Baustelle, konnte also weder das Auto des Gerichtsvollziehers noch irgendwelche anderen Fahrzeuge dort tatsächlich stören, womit ein Eingriff in das Demonstrationsrecht erst recht ausgeschlossen werden müsse. Zeitgleich saßen noch über 20 Menschen als Blockade auf der Straße.
Nach Abschluss dieser Ausführungen wurde der Beschuldigte zu Wort gebeten. Mario sagte aber nichts.
Der Richter begann daraufhin einen Monolog über verschiedene Rechtsauffassungen und deutete an, dass ihm die rechtliche Argumentation der Verteidigung eher unwichtig sei. Den Cops könne nicht angelastet werden, welche Rechtsauffassung das Gericht bevorzuge, es reiche, dass sie nach einer der gültigen Rechtsauffassungen handelte. Ihn schienen weniger die Taten und die (Un)Schuld des Angeklagten zu interessieren, als die Frage, ob die Polizei einen Fehler gemacht habe oder nicht.
Die Verteidigung brachte nach diesen Ausführungen noch ein Urteil des Landgerichts ein, bei dem ein anderer F54-Verteidiger bei einer ähnlichen Situation bei einer spontanen Versammlung in der Weserstraße freigesprochen wurde, obwohl er sogar komplett auf der Straße stand (friedel54.noblogs.org/post/2019/02/27/m…. Das Urteil wurde aber vom Richter nicht weiter beachtet, da es in der Begründung keine Antwort auf seine juristischen Haarspaltereien enthielt.
Im Anschluss wollte er für die Schöffen die Stimmung des Tages der Räumung erfahrbar machen. Dazu hatte er drei Zeitungsartikel ausgesucht und begann diese zu verlesen. Dies sorgte für Kopfschütteln beim Staatsanwalt. Während der erste Artikel (von der TAZ:
www.taz.de/Archiv-Suche/!5425465&s=Friedel/) verlesen wurde, nannte dieser die Auswahl willkürlich und nicht dienlich den Sachverhalt aufzuklären. Nach einer Rüge des Staatsanwalts fuhr der Richter fort. Daraufhin forderte der Staatsanwalt einen richterlichen Beschluss um die Vorlesung zu beenden. Das Gericht zog sich für eine Minute zurück und beschloss, dass Schriftstücke vorgelesen werden dürften und zog das Spiel durch eine sorgsam verfasste Begründung in die Länge. Der TAZ-Artikel wurde zu Ende verlesen und je ein Artikel von Tagesspiegel (https://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/friedel-54-in-berlin-neukoelln-kiezladen-nach-protesten-an-gerichtsvollzieher-uebergeben/19995530.html) und der ZEIT (www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/…
) folgten. Der Staatsanwalt mied von nun an den Blickkontakt zum Richter und schaute genervt Richtung Zuschauerbänke. In den Artikeln von Tagesspiegel und ZEIT bekamen wir wieder die Fake-News um den Türknauf serviert. Die Türknauf-Lüge hat es also mittlerweile als Indiz ins Landgericht geschafft…
Beide Teams waren mittlerweile unzufrieden mit dem (Schieds)Richter. Nun begann die Beweisaufnahme und ein Video der Berliner Bullen wurde vorgespielt. Zunächst war eine Sitzblockade auf der Friedelstraße zu sehen, die von mehreren Wannen und zwei Zügen der Hunderschaft umstellt war. Dann schwenkte die Kamera zum Baustellenbereich der Lenaustraße, wo die Straße weitgehend aufgerissen und mit Holzbrettern und Barken abgesperrt war. Auf einem schmalen Durchgang schubsten mehrere Cops die Demonstrant*innen Richtung Fußweg. Im zweiten Durchlauf des Videos gab es eine Zeitlupe und einen Pfeil auf Mario. Die Verteidigung gab bereits im Vorfeld zu, dass es sich um Mario handelte. Nun sahen wir, dass der Bullen-Stürmer Simon Werner (33) mit der Rückennummer 34101 eindeutig den Friedel-Verteidiger Mario hielt und schubste. Dabei unterstützte ihn sein Artgenosse Riepenhausen, der in erster Instanz bereits ausgesagt hatte. Mario ließ sich aber nicht theatralisch fallen, sondern lehnte sich gegen die Gewalt der Cops und hielt sich an einer Barke fest, bis seine Hand gelöst wurde und er endgültig zum Bürgersteig geschubst wurde. Kurz gesagt: eine klare Tätlichkeit! Zwei Rote Karten und die dazugehörigen Platzverweise für die Polizisten wären zwingend notwendig gewesen! Diese blieben aber aus, womit die Diskussionen um den Videobeweis wohl weitere Nahrung erhalten wird…
Nun folgte der Auftritt des bereits erwähnten Bullen-Stürmers Simon Werner (33) aus der 34. Einsatzhunderschaft. Dieser sagte seinen brav auswendig gelernten Text auf: Sie seien nicht beim Objekt gewesen, sondern hätten „Raumschutz“ gemacht. An der Ecke Lenaustraße sei ein Versammlungscharakter erkennbar gewesen, es hätte aber keine Anmeldung gegeben und es hätte sich auf Nachfrage auch keine Person dafür gefunden. Sie hätten die Straße dann räumen müssen für den ankommenden Gerichtsvollzieher und für gerufene Krankenwägen (Warum die eigentlich kommen mussten, kam nicht zur Sprache…). Dann wurde die Tätlichkeit geschildert und am Richterpult eine Skizze der Situation gezeichnet. Es gab wenig Nachfragen, nur kleine Klärungen, wo der Durchgang für Fahrzeuge gewesen wäre und was der genaue Auftrag war. Im Anschluss wurde ein zweites Mal das Bullen-Video in Original und Zeitlupe gezeigt. Der Schubser bekannte sich zu seiner Tätlichkeit, aber auch das reichte dem Richter nicht um ihn wenigstens nachträglich für die nächsten Einsätze zu sperren. Danach wurde der Zeuge entlassen.
Nach Ansicht des Videos und der Zeugenbefragung ließ der Staatsanwalt nun erkennen, dass es für ihn ein Freispruch sei. Davon musste er die Verteidigung nicht lange überzeugen. Der Richter wollte die Spannung allerdings bis zum Schluss hoch halten und wollte sich noch nicht darauf einlassen. Ihm ging es nach wie vor wenig um die Taten Marios, sondern hauptsächlich um eine Urteilsbegründung, bei der die Cops nicht wie Deppen aussähen. Zugegeben, eine schwere Aufgabe.
Mit den beiden noch geladenen Polizeizeugen wollte der Richter nun nur noch klären, ob die Cops einen Fehler gemacht hatten oder nicht. Das verstand aber auch von den Anwält*innen im Saal niemand mehr. Das Gericht zog sich zu einer Beratung zurück und kehrte mit weisen Einsicht zurück, dass die weitere Befragung von Cops nach Ansicht des Videos keine weiteren Erkenntnisse mehr erbringen würde.
Daraufhin zog es sich ein weiteres Mal zurück und verkündete anschließend das Urteil: Freispruch im Namen des Volkes.
Freude im F54-Block und beim Gästeteam. Nach 90 Minuten Verhandlung mit viel Geplänkel und wenig Höhepunkten konnte die Hinspiel-Niederlage gedreht werden. Dies war bereits der zweite Auswärtssieg im Landgericht in der Turmstraße innerhalb eines Monats.
Leider ist das ganze nur selten großer Sport. Im Nachgang der Räumung am 29.06.2017 wurden bereits viele Strafbefehle gezahlt und Urteile mit mehreren hundert Tagessätzen ausgesprochen. Die juristische Aufarbeitung neigt sich wohl langsam dem Ende zu, ist aber noch nicht abgeschlossen.
Wenn ihr betroffen seid oder Betroffene kennt, die Strafbefehle oder -verfahren im Zusammenhang mit unserer Räumung oder anderen Aktionen haben, dann meldet euch unter f54 (ätt) riseup.net.
Egal ob sprühen, kleben, blockieren, besetzen, vermummen, Hausverwaltung und Eigentümer*innen nerven oder sich gegen Cops wehren – wir stehen an eurer Seite und unterstützen euch materiell und ideell, euren Bedürfnissen entsprechend.
Friedel54 bleibt unvermietbar!
Für widerständige Kieze, rebellische Nachbarschaften und die Stadt von unten!