Coronavirus und Gesellschaftsveränderung. Ein Bericht aus Nord-Italien.
Es stimmt zwar, dass die Gesundheitssysteme in den letzten Dezennien kaputtgespart worden sind. Es stimmt auch, das Regime der allgemeinen Ausgangssperre polizeilich-autoritäre Färbung anzunehmen droht. Aber das sind nicht die aktuellesten Gegenstände praktischer Kritik. Die kritische Analyse der gegenwärtigen Lage bedarf einer Akzentverschiebung. Zielrichtung: Die Polemik gegen Neoliberalismus zu einer praktischen Negation des Kapitalismus vorwärtszutreiben.
Zur Frage der Ausgangssperre.
Virologie, Epidemiologie und Mathematik behaupten beinahe einstimmig die Existenz eines direkten Proportionalitätsverhältnisses zwischen der Zahl von zwischenmenschlichen physischen Kontakten, der Zahl der Ansteckungen und der Zahl der Todfälle. Es ist davon auszugehen, dass das Minimieren der zwischenmenschlichen Kontakte gerade lebensrettend ist. Selbstverständlich kommt es viel mehr auf die Einstellung weiter Teile der Produktion und Zirkulation von Kapital an, als auf die Schärfung der Anti-Jogger-Gesetze. #stayhome bleibt dennoch ein quasi naturnotwendiger Ausgangspunkt. Er steht nicht alternativ oder gar im Gegensatz zur Strategie des „flächendeckenden“ Testens. Beides ist wichtig. Das Gesundheitswesen ist real kaputtgespart worden, die Ressourcen sind real knapp. A. D. (mein Vater) arbeitet in Turin als Familienarzt. Seit einiger Zeit schickt er 2 bis 3 Patienten/Tag mit Atemnot in die erste Hilfe. Er hat eine ausschließlich Ärzten verfügbare Telefonnummer, um suspekte COVID-19-Fälle zu melden. Eine Patientin hat langen Kontakt mit einem bestätigten Fall gehabt und ist vollsymptomatisch (39° seit 4 Tagen, trocknes Husten, kein Geschmack kein Geruch…). Atmen kann sie aber. A. D. hat es nicht hinbekommen, sie testen zu lassen. Es ist nicht genug Tets-Material da, selbst für Fälle nicht, die mit 99% Wahrscheinlichkeit positiv sind. So die Situation in Piemont. (Mittlerweile hat vor drei Tagen eine Firma von Brescia – die dritte Stadt der Welt für Totenzahl nach Wuhan und Bergamo – 500000 Coronavirus-Test-Kit an die USA verkauft). Darüber hinaus sind asymptomatische unbewusste Überträger überall unberechenbar. Will man nicht, dass Menschen an COVID-19-induzierter Pneumonie ersticken, so kann man nicht umhin, Kontakte zu minimieren.
Einerseits kann die Kraft des Gesetzes effektiv zu diesem Minimieren beitragen, also sollte sie es auch tun. Andererseits wächst die freiwillige und bewusste Anpassung an die Regeln mit der Zahl der Toten. Gestern ging ich zum Markt. Ich konnte beobachten, dass die Distanzierung zu so etwas wie einer gesellschaftlich bewussten Rücksichtspraxis wird. Oder wenigstens werden kann. In Italien steht man in der Regel nicht Schlange, sondern man drängt vorwärts und will zuerst. Gestern wars beeindrückend anders. Jeder Kunde oder Kundin hat sich dann nach der langen Wartezeit auch noch ganz ordentlich bei der Kassiererin bedankt. Es geht also nicht nur manu militari.
Zur polit-ökonomischen Frage.
Man ist ganz sicher im Recht, wenn man gegen die neoliberale Austeritätspolitik und die Kürzungen der letzten Dezennien polemisiert. Ich bin mir aber nicht so sicher, dass diese Polemik wirklich an der Zeit ist. Der Linksliberalismus führt sie hochtönend. Mir klingt sie vor allem etwas nörgelisch-besserwisserisch. „Wir Linken haben es schon immer gesagt, dass es keine gute Idee ist, die Gesundheit kaputtzusparen. Siehste?“. Was will eigentlich diese Polemik? Wo will sie hin? Bestenfalls, dass Bernie Sanders Präsident wird. Sanders hat aber schon die Vorwahl praktisch schon verloren – und zwar erst jetzt grade, also während der Coronakrise.
Weiterführender und zukunftgerichteter fände ich, die Erfahrung zu verwerten, dass – jetzt in Mailand etwa, wo es hart auf hart kommt – ein Krankenhaus einfach so in wenigen Tagen !!! bereitgestellt werden kann. Wer hätte das für möglich gehalten? Jahrelang hat man gehört, der „Rationalisierung“ halber müssen Krankenhäuser geschlossen werden; ganze Sektoren des Gesundheitswesens müssen privatisert werden; alles sei so teuer, eine unertragbare Last für die Staatsfinanzen. Jetzt finden wir heraus, dass – man muss es nur wollen – heute ein neues Krankenhaus in wenigen Tagen bereitgestellt und in Betrieb gesetzt werden kann. Die Gesellschaft macht gerade die Erfahrung, wie reich sie ist, wie potent ihre Produktivkraft ist. Zugleich sieht sie, dass ihre (also die gesellschaftliche) Produktivkraft auch gesellschaftlich angewendet werden kann. Das ist eine historische Erfahrung, die verloren zu gehen droht. Darauf ist zu insistieren.
Mit der Zahl der Toten und der Gefahrwahrnehmung ändert sich auch die politische Konstellation. Unterschiede gibts nicht nur zwischen Italien und anderen Ländern, sondern auch zwischen itelienischen Regionen. Der Ministerpräsident der Lombardei, Attilio Fontana, ist ein konservativer Politiker, ein Mann der Lega. Zwar kein Salvinianer – kommt aus der ersten Lega-Generation: nordistisch, also antinational und antifaschistisch – aber schon eindeutig Rechter. Entscheidende historische Fortschritte pflegen, durch konservative Politiker unterschrieben zu werden. Lincoln hat die Sklaverei abgeschafft, Nixon den Vietnamkrieg, Sharon die Besatzung Gazas beendet usw.
Fontana ist gerade verzweifelt. Er hat alle Ärzte und Pfleger, die in Rente sind, aufgefordert, dahin zu fahren und sich zu Verfügung zu stellen. Für Rentner bedeutet dies eine Aufforderung zur Selbstaufopferung in büchstäblichem Sinn. Vorgestern gab er eine sehr alarmierende Pressekonferenz zusammen mit chinesischen Ärzten. Er streitet sich heftig mit der um die Rettung des Rettbaren an Brutto Inland Produkt gekümmerte Zentralregierung (Lombardei ist bei weitem die produktivste Region Italiens) und fordert die totale Einstellung aller produktiven und kommerziellen Tätigkeit. Er sieht sehr gut, dass die Mailänder U-Bahn um 8 und 18 Uhr nicht voll gewissenslose Spaziergänger ist. Darüber hinaus fordert er die Einsetzung der Armee zur minimalen Versorgung der Bevölkerung, sowie die Requisition von Hotels, pharmazeutischen Produktionstätten usw. Er sieht auch sehr gut, dass das was er fordert ein verzweifelter Abbruch des Akkumulationsprozesses bedeutet; dass die notwendige ökonomische Folge eine gewaltige Rezession ist, unberechenbar großer als 2008: eine in absehbarer Zeit wirklich nicht einzudämmende Akkumulationskrise. Und er sagt: scheiß drauf. “Ihr versteht nicht!” schreit er. Die Leute erkranken und ich kann sie nicht mehr pflegen. Basta, whatever it takes.
Dort, wo die Ansteckung am fortgeschrittensten ist, sehen wir zum ersten Mal in unserem Leben, dass Mediziner (aus der Volksrepublik) statt Ökonomen die politische Linie diktieren. https://www.youtube.com/watch?v=aaoS_4GmeXY. Gesundheit verdrängt Wachstum aus seiner sonst unhinterfragten Stelle als kategorischer Imperativ. Der Schutz dieses Gemeinguts fordert die Herrschaft des Kapitals heraus, und der Kampf steht so offen wie noch nie in den letzten 100 (?) Jahren. Mittlerweile gibt die italienische Regierung dem Druck Fontanas völlig nach. Gestern Nacht hat Ministerpräsident Giuseppe Conte in einer Pressekonferenz mitgeteilt, dass alle Fabriken geschlossen, dass nur noch die überlebensstrategischen Produktions- und Lieferungsketten weiterlaufen dürfen. Er hat natürlich vergessen hinzuzufügen, dass diese Kette unter gesellschaftliche Kontrolle gebracht und geplant zu werden braucht. Das wird sich aber schnell und mit mathematischer Sicherheit heruasstellen. Möglicherweise hat Greta Thunberg schon bemerkt, dass der Himmel blauer aussieht, seitdem der Ölpreis so rasch sinkt.
Wir haben es mit der wahrscheinlich schlimmsten Epidemie der Menschheitsgeschichte zu tun. Die Pest im Mittelalter hatte zwar eine höhere Letalitätsrate als COVID-19, aber 1) es gab damals keine Beatmungsmaschinen und 2) Viren waren noch nie Ryanair geflogen.
Die wichtigste politische und gesellschaftskritische Aufgabe unserer Tage scheint mir demnach, ohne Mystik und Aberglaube zu zeigen, wie diese atemberaubende Krankheit die Erstickung der Arbeitskraft und der Erde darstellt, die wir unter normalen Umständen betreiben; zu zeigen, dass die konsequente Bekämpfung jener in letzter Instanz identisch ist mit der Bekämpfung dieser.